Mit Social Recruting zu neuen Talenten.
Der Fachkräftemangel hat längst alle Branchen erfasst. Neben Energiekrise und Digitalisierungsherausforderungen zählt er zu den größten Unsicherheitsfaktoren für Unternehmen. Der Arbeitgeber- ist zum Arbeitnehmermarkt geworden – mit einer deutlichen Verschiebung der Machtverhältnisse. Unternehmen müssen heute für sich werben, wollen sie neue Talente anziehen. Doch gelingt das noch auf den klassischen Wegen? Braucht es neue kreative Konzepte für die erfolgreiche Fachkräfteansprache? Darüber haben die HR Innovators, ein Netzwerk der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg, unter dem Titel „Hat die Stellenanzeige ausgedient?“ digital diskutiert. Insbesondere die Möglichkeiten des Social Recruiting standen im Fokus des HR-Austauschs.
Ein Tinder für Fachkräfte
Suchen die Unternehmen Bewerber oder suchen sie eigentlich Mitarbeiter:innen? Dieser Frage widmete sich Uwe Thuß, Geschäftsführer der app-concept.com GmbH und Entwickler der App JobsNavi, einem Tinder für Fachkräfte, in einem ersten Impuls.
Für Thuß haben Stellenanzeigen klar ausgedient, denn sie werben um Bewerber:innen. Entsprechend gestaltet sich der nachfolgende Prozess: Einer langwierigen Suche nach der einen Anzeige mit passendem Jobtitel und möglichst stimmigen Anforderungsprofil, folgt eine ebenso aufwendige Bewerbung mit Lebenslauf, Zeugnissen und einem oft nichtssagenden Motivationschreiben. Im Anschluss wird gewartet, bis klar ist, ob die Bewerbung überzeugt hat und ein erstes Vorstellungsgespräch ansteht. Allein dies dauert oft mehrere Tage. „Damit man diesen schmerzvollen Weg überhaupt geht, ist ein hoher Schmerz im aktuellen Job erforderlich“, ist sich Thuß sicher.
Mit solch schwer zugänglichen Prozessen erreichen Unternehmen seiner Meinung nach nur einen winzigen Teil der potenziellen Bewerber:innen, nämlich nur die, deren Schmerz so groß ist, dass sie bereits aktiv auf der Suche nach einer neuen beruflichen Herausforderung sind. „Unternehmen fischen im falschen Teich“, ist Thuß überzeugt. So stünden einer Million Stellenanzeigen pro Monat circa drei Millionen aktiv suchende Bewerber:innen gegenüber. Entsprechend hoch sei der Wettbewerb zwischen den Unternehmen um die besten Talente.
Angeln Sie im richtigen Teich!
Mit den klassischen Prozessen rund um die tradierte Stellenanzeige werde somit nur eine sehr kleine Zielgruppe erreicht. Die große und spannende Zielgruppe der latent wechselbereiten Fachkräfte jedoch könne so nicht angesprochen werden – und das seien immerhin 10 Millionen Arbeitnehmer:innen und weitere eine Million Fachkräfte durch Zuwanderung.
Diesen gut gefüllten Teich für Unternehmen zu erschließen, hat sich Uwe Thuß zum Ziel gesetzt und dafür seine App JobsNavi auf den Weg gebracht. Der Grundgedanke der Recruiting-Anwendung: Erfolgreiches Recruiting im richtigen Teich gelinge nur durch den kompletten Verzicht auf die klassischen Bewerbungs- und Stellenausschreibungsprozesse. Zudem sei es wichtig, Jobprofile immer auch mit den erforderlichen Softskills anzureichern, um neben den beruflichen Erfahrungswerten auch die Stärken und persönlichen Bedürfnisse der Bewerber:innen anzusprechen. „Im Übrigen lehnen wir den Begriff der Fachkräfte schon mal grundsätzlich ab“, sagt Thuß. „Denn der reduziert Menschen auf ihre fachlichen Kräfte und eben nicht auf ihre persönlichen Werte und Bedürfnisse.“
Um erfolgreich zu rekrutieren, sollten Unternehmen vor allem Neugier und damit das Interesse an sich und den ausgeschriebenen Stellen wecken. Das brauche einen niedrigschwelligen, mehrsprachigen und mobilen Zugang zu Stellenangeboten in Echtzeit, der potenzielle Bewerber:innen in ihrem Alltag und über Deutschlands Grenzen hinweg abholt. Thuß‘ Lösung: die App JobsNavi.
Recruiting muss so einfach sein wie Dating
„Sie müssen ohne einen Bewerbungsprozess einfach das zusammenführen, was zusammen passt“, sagt Thuß. Wie beim Dating sollten entsprechend bestimmter Kriterien individuell passende Angebote angezeigt werden und die zeitraubende Suche nach Stellenangeboten überflüssig machen. Statt Dating-Match gibt es ein Job-Match und die Möglichkeit zum direkten Austausch via Chat.
Basis für das Matching bilden neben fachlichen Kriterien vor allem persönliche Bedürfnisse und Werte, damit Job und Unternehmen am Ende auch wirklich zum Talent passen und frustrierende Erfahrungen vermieden werden. So benötige man für Stellen im Vertrieb eher Pioniere und Performer, während ein Posten in der Buchhaltung besser mit bodenständigen Menschen zu besetzen sei, die Wert auf Strukturen und Stabilität legen, erläutert Thuß den Ansatz der Recruiting-App.
Mit diesen einfachen Prozessen erreiche man auch Menschen mit nur latentem Interesse an Jobveränderung. „Eine kleine Unzufriedenheit im Job reicht dann schon aus, um zu sagen: Zeig mir doch mal, was alles zu mir passt.“, ist Thuß überzeugt. Die Möglichkeit zur anonymen Nutzung der App erhöhe die Attraktivität für die Zielgruppe zusätzlich. So sei es möglich, mit Alias-Profilen auf Jobsuche zu gehen und unangenehme Begegnungen mit dem aktuellen Arbeitgeber zu vermeiden.
Dieser einfach und niedrigschwellige Zugang zum Arbeitsmarkt jederzeit und überall spreche vor allem jüngere Generationen wesentlich besser an. Eine zusätzliche „nearby-Funktion“ unterstützt zudem interessierte Talente auf Messen dabei, potenzielle Arbeitgeber schnell und unkompliziert zu finden und auch außerhalb der digitalen Welt schnell in den Kontakt zu treten.
Die Digitalisierung biete zahlreiche neue Möglichkeiten im Recruiting. Für Thuß ist es Zeit, diese auch zu nutzen. Und so appelliert er an die Unternehmen, ihre klassischen Recruiting-Prozesse grundlegend zu überdenken und sich frei zu machen von veralteten Vorstellungen, die noch auf dem Bild des Arbeitgebermarktes basieren.
Social Recruiting für Social Jobs
Um die konkrete Zielgruppe der sozialen Arbeiter:innen ging es im zweiten Impuls der Runde, der von Laura Wiedersich, Head of Recruiting und PR beim Kinder- und Jugendhilfe-Verbund Berlin-Brandenburg (kjhv) kam. Die Schwierigkeiten in diesem Bereich: Einem sehr herausfordernden Arbeitsfeld stehen Schichtdienste, niedrigere Verdienstmöglichkeiten und unflexible Arbeitsformen gegenüber. „Der Fachkräftemangel wird insbesondere in diesen für unsere Gesellschaft so wichtigen Feldern immer prekärer“, erläutert Laura Wiedersich den Ausgangspunkt ihrer Arbeit.
Employer Branding stärken und für positive Verknüpfungen sorgen
Social-Media-Kanäle spielen für die HR-Expertin eine wesentliche Rolle im Recruiting – jedoch müssen sie richtig genutzt werden. So setzt Wiedersich bei der Ansprache über Instagram, TikTok und Co. vor allem darauf, die potenziellen Bewerber:innen in ihrem Alltag zu erreichen. Das Mittel der Wahl seien Reels, also kurze Videoclips, die ansprechend und bestenfalls witzig sein sollen. Gleichzeitig sollen die Clips Arbeitsfelder vorstellen und die Organisation hinter dem Social-Media-Kanal transparenter machen. Hier zähle Qualität statt Quantität!
Stellenanzeigen spielen auf diesen Kommunikationskanälen so gut wie gar keine Rolle. „In diesem Sinne hat die Stellenanzeige vielleicht schon ein bisschen ausgedient“, sagt Wiedersich. „Es geht vor allem darum das Employer Branding zu stärken und dafür zu sorgen, dass potenzielle Bewerber:innen im entscheidenden Moment, eine geschaltete Stellenanzeige positiv mit dem Unternehmen verknüpfen oder sich eben an diesen Arbeitgeber erinnern, wenn sie sich selbst auf die Suche machen.
Wichtig für den Erfolg der eigenen Social-Media-Kanäle sei es, Inhalte wirklich an den Kanal anzupassen. „Wenn Sie Inhalte einfach 1:1 auf mehreren Kanälen teilen, welchen Mehrwert hat es für Nutzer:innen dann noch, Ihnen auf mehreren Plattformen zu folgen“, fragt Wiedersich die Runde und ruft dazu auf, Inhalte stets plattformgerecht aufzubereiten.
Dabei sei das Reel vor dem klassischen Bild zu bevorzugen, denn ein klassisches Bild habe kaum noch Reichweite und werde auch seltener in den Feeds angezeigt. Weitere Schlüsselfaktoren für den Recruiting-Erfolg sieht Wiedersich darin, immer authentisch zu sein und aktuellen Trends schnell zu folgen. „Das geht natürlich nicht nebenher“, sagt Wiedersich. „Social-Media muss eine extra Stelle sein, wenn man es richtig machen will.“
So sollten Social-Media-Manager:innen bewusst ausgewählt werden. Denn um schnell und agil auf Social-Media-Trends reagieren zu können, braucht es kurze Schleifen. Entsprechend sollten Social-Media-Manager:innen das eigene Leitbild verinnerlicht haben und dann auch das Vertrauen der Geschäftsführung genießen. Komplexe Abnahmeschleifen stünden einem Social-Media-Erfolg im Weg.
Präsent sein – auch außerhalb des Internets
Neben der Präsenz im Netz zähle bei der Fachkräftesuche aber auch weiter die Präsenz vor Ort. Um hier für entsprechende Aufmerksamkeit zu sorgen, setzt Wiedersich auf Guerilla-Aktionen. So werden auch mal trendige Blech-Campingtassen mit Logo und Kontaktdaten vor der Hochschule verteilt, die für Erinnerungswerte sorgen. Mit wenig Aufwand und Planung sei so viel zu erreichen.
Wichtig sei es, die Fachkräfte da anzusprechen, wo sie sich aufhalten und das ebenfalls niedrigschwellig und authentisch. Deshalb sollten Aktionen immer von echten Mitarbeiter:innen betreut werden. Die funktionalen Campingtassen beispielsweise begleiteten die Student:innen noch Jahre später auf Festivals und Camping-Ausflüge. Kurz vor Beginn des Sommers trafen sie genau den Zeitgeist. Selbst drei Jahre später erreichen die kjhv noch Bewerbungen, die sich auf diese Aktion beziehen.
Auch mit Fotoaktionen ließen sich gute Kontakte machen, verrät Wiedersich. So sei man auf einer Fachkräftemesse mit einem gebrandeten Rahmen unterwegs gewesen, um Polaroid-Fotos zu schießen. Diese konnten sich die potenziellen Auszubildenden und Studierenden dann später am Stand abholen. Das sorgte für Besucher:innen-Rekorde. Das Foto nahm Hürden und Hemmschwellen und ermöglichte einen leichten Gesprächsauftakt.
Bei Stellenanzeigen überwiegt weiterhin Quantität
Insbesondere im sozialen Bereich habe die Stellenanzeige jedoch nicht ausgedient, sagt Wiedersich und nimmt damit eine bewusst andere Position ein als ihr Vorredner. Hier sei Präsenz auf allen Kanälen wichtig, um die nötige Reichweite zu erzielen. „Wir nehmen alles mit, was geht“, verrät sie. „Eine Stellenanzeige wird auf über 160 Portalen veröffentlicht.“ Natürlich wird ein Teil durch Multiposting-Tools abgedeckt, aber auf sehr vielen Portalen werden die Anzeigen händisch eingestellt. Das sei zwar enorm viel Aufwand, würde sich aber weiterhin bewähren.
Nebenbei werde auch der Google-Algorithmus bedient und sorge für bessere Sichtbarkeit bei Suchanfragen. Auch einen Tipp für kostenlose Portale gibt es für die Runde: Ebay Kleinanzeigen habe sich auf dem Recruitingmarkt bewährt.
24/7 Erreichbarkeit
Wichtig sei auch hier die gute und unkomplizierte Erreichbarkeit. So hat Wiedersich ein Diensthandy, mit dem sie theoretisch rund um die Uhr erreichbar ist. Jedoch würden sich Bewerber:innen an die gängigen Zeiten halten und trotz der vorhanden Möglichkeit nicht außerhalb des Tagesgeschäfts anrufen. Zeitliche Einschränkungen seien hingegen nachweislich kontraproduktiv und würden Bewerber:innen abschrecken. So folgt auch Wiedersich dem Motto: „So niedrigschwellig wie möglich, alle Hürden abbauen und viele Wege anbieten, sich zu bewerben.“ Insbesondere im sozialen Bereich müsse man klassische Bewerbungswege, beispielsweise auf dem Postweg, weiter mitdenken, denn auch diese werden noch genutzt.
Gute Erreichbarkeit, wertschätzende Kommunikation und Reaktionen auf wirklich jede Bewerbung prägen das Bewerber:innen-Management der kjhv. Das sei entscheidend für den Markenaufbau. Denn auch die Gespräche unter potenziellen Bewerber:innen sollten durch ein positives Markenbild geprägt sein.
Happy people = jobless recruiter
Hinter einer positiven Arbeitgebermarke muss immer auch eine positive Unternehmenskultur stehen, ist Wiedersich überzeugt. Denn ein Werben mit Werten, die das Unternehmen nicht wiederspiegelt, führe immer zu unzufriedenen Mitarbeiter:innen, die schon kurz nach der Einstellung das Unternehmen wieder verlassen.
„Recruiting sollte entsprechend immer Hand in Hand gehen mit der Mitarbeiterzufriedenheit und –bindung. Die Prämisse für jeden Recruiter sollte sein, sich selbst überflüssig zu machen.“
Zum Format:
Die HR Innovators sind ein Gemeinschaftsformat der Industry Innovators Group und des Personalforum Berlin-Brandenburg, zwei Netzwerken der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg. Im Fokus stehen Zukunftsthemen der Personalarbeit und die sich mit der technologischen Entwicklung verändernde Rolle von Personaler:innen. Gemeinsam mit Personalverantwortlichen der Mitgliedsunternehmen sowie regionalen HR-Startups werden Technologien in der Personalarbeit der Zukunft kontrovers diskutiert und Gestaltungsansätze identifiziert.